Warum Jerusalem?

Warum galt Jerusalem als Mittelpunkt der Welt?

Die Geschichte Jerusalems ist die Geschichte der Welt, zugleich aber die Chronik einer meist verarmten Provinzstadt im Bergland Judäas.

Die Stadt ist Brennpunkt der Auseinandersetzungen zwischen Abrahamitischen Religionen, das Heiligtum eines zunehmend populären christlichen, jüdischen und islamistischen Fundamentalismus, strategisches Schlachtfeld eines Kampfes der Kulturen, Frontlinie zwischen Atheismus und religiösem Glauben, Anziehungspunkt säkularer Faszination, Gegenstand schwindelerregender Verschwörungstheorien und Internetmythen und grell beleuchtete Bühne für die Kameras der Welt in einem Zeitalter der Rund-um-die Uhr-Nachrichtensendungen.

Jerusalem ist die Heilige Stadt, war zugleich aber schon immer ein Hort des Aberglaubens, der Scharlatanerie und Bigotterie; sie war begehrtes Eroberungsziel von Weltreichen, aber ohne strategischen Wert.

Hier wurden die Abrahamitischen Religionen geboren, und hier wird die Welt am Tag des Jüngsten Gerichts enden. Jerusalem, das den Völkern der Bibel heilig war, ist die Stadt der Bibel.

Als die Bibel ind Griechische und später ins Lateinische und in andere Sprachen übersetzt wurde, entwickelte sie sich zum Universalbuch und machte Jerusalem zur Universalstadt.

Der Historiker Ibn Khaldun, der im 14. Jahrhundert manche der in diesem Buch geschilderten Ereignisse selbst erlebte und uns als Quelle dient, stellte fest, dass Geschichte eifrig gefragt ist: „Die Menschen auf der Straße wollen sie kennen, Könige und Führer wetteifern um sie“. Das gilt besonders für Jerusalem.

Als Begegnungsstätte von Gott und Mensch ist Jerusalem der Ort, an dem diese Fragen der Apokalypse geklärt werden: am Ende aller Tage, an dem es einen Krieg, einen Kampf zwischen Christ und Antichrist geben wird; an dem die Kaaba von Mekka nach Jerusalem kommen wird; an dem das  Jüngsten Gericht stattfinden wird, die Toten auferstehen und die Herrschaft des Messias und des himmlischen Königsreichs, des neuen Jerusalem, beginnen wird.

Die Toten sind hier nahezu lebendig, während sie auf ihre Auferstehung warten. Der endlose Kampf Jerusalems – Massaker, Chaos, Kriege, Terrorismus, Belagerung und Katastrophen – hat diesen Ort zu einem Schlachtfeld gemacht.

Die Entwicklung, die dieses Heiligtum des Himmels und der Erde nahm, war nicht immer vom Schicksal bestimmt. Der Funke einer Offenbarung, die ein charismatischer Prophet wie Moses, Jesus oder Mohammed hatte, ließ Religionen entstehen. Tatkraft und Glück eines Kriegsherrn schufen Imperien und eroberten Städte. Die Entscheidung Einzelner, angefangen bei König David, machte Jerusalem zu Jerusalem.

Davids kleine Zitadelle, die Hauptstadt eines unbedeutenden Königreiches, hatte sicher nur geringe Aussichten, zu einem wichtigen Anziehungspunkt der Welt zu werden. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar eine tragende Stütze für die Heiligkeit der Stadt schuf, weil diese Katastrophe die Juden veranlasste, die Herrlichkeit Zions zu schildern und zu preisen… Die Bibel trat anstelle des jüdischen Staates und des Tempels und wurde  zum „portativen Vaterland“, wie Heinrich Heine es in seinen Geständnissen nannte.

Die Heiligkeit der Stadt erwuchs aus der Besonderheit der Juden als auserwähltem Volk. Jerusalem wurde zur auserwählten Stadt, Palästina zu auserwählten Land, und Christen und Muslime erbten und übernahmen diese herausgehobene Stellung.

Jerusalem trotzt gesundem Menschenverstand, praktischer Politik und Strategie und existiert im Reich heißer Leidenschaften und unbesiegbarer Emotionen, die der Vernunft nicht zugänglich sind.

Wichtige Stätten wie der Tempelberg, die Zitadelle, die Davidsstadt, der Berg Zion und die Grabkirche weisen keine klar unterscheidbare Schichtung auf, sondern ähneln eher einem Palimpset oder einer Stickerei, deren Seidenfäden so miteinander verflochten sind, dass man sie nicht mehr voneinander trennen kann.

So war der Berg Zion Ziel fanatischer Verehrung von Juden, Muslimen und Christen, zieht aber heute kaum noch muslimische oder jüdische Pilger an und ist wieder überwiegend ein christliches Heiligtum.

In Jerusalem gibt es nicht nur zwei Seiten, sondern viele miteinander verflochtene, sich überschneidende Kulturen und vielschichtige Loyalitäten – ein facettenreiches, wandelbares Kaleidoskop aus arabisch-orthodoxen Christen, arabischen Muslimen, sephardischen Juden, aschkenasischen Juden, Haredi-Juden verschiedener Richtungen, säkulare Juden, armenisch-orthodoxe Christen, Georgiern, Serben, Russen, Kopten, Protestanten, Äthiopiern, Lateinern und so weiter.

Simon Sebag Montefiore, “ Jerusalem Die Biographie“, 3. Auflage: März 2013, Fischer Verlag, Frankfurt

Militärischer Wert der Heiligen Stadt Jerusalem

Warum besetzten Muslime die Heilige Stadt Jerusalem?

Der militärische Wert der Heiligen Stadt – isoliert mitten in den Bergen Judäas – war begrenzt. Doch nach Jahrzehnten, in denen Nur ad-Din und Saladin ihre religiöse Bedeutung mittels Predigten und Propaganda nachdrücklich ins Bewusstsein gehoben hatten, war der Status Jerusalems als heiligster Ort des Islams außerhalb Arabiens fest verankert. In einem Krieg, der auf der Vorstellung des Dschihads aufbaute, musste Jerusalem das letzte Ziel sein. Saladin beorderte in weiser Voraussicht die ägyptische Flotte in den Norden, um Jaffa gegen einen christlichen Angriff zu verteidigen; die lateinischen Vorposten, die Judäa gegen Angriffe  aus dem Osten schützen sollten, waren schon besiegt; nun, am 20. September 1187, rückte das Heer Saladins gegen Jerusalem vor.

Der Termin für die offizielle Übergabe Jerusalems wurde sehr bewusst gewählt, denn auch damit sollte das Ansehen des Sultans als eines bewährten Vorkämpfers des Glaubens betont werden. Jahrhunderte zuvor war Mohammed nach seiner nächtlichen Reise am 2. Oktober vom Tempelberg aus zum Himmel aufgefahren. Saladin wählte im Jahre 1187 ebendieses Datum für seinen triumphalen Einzug in die Stadt und zog damit deutliche Parallelen zwischen seinem eigenen Leben und dem des Propheten. Danach setzten rasch die Umbauten und die Islamisierung ein. Viele christlichen Andachtsstätten und Kirchen wurden ihrer Schätze beraubt und geschlossen; einige wurden in Moscheen, madrasas (Schulen) oder Gebäude für religiöse Gemeinschaften verwandelt. Intensiv diskutiert wurde das Schicksal des Heiligen Grabes; einige plädierten dafür, es vollständig zu zerstören. Viele andere rieten zu weniger radikalem Vorgehen: Sie argumentierten, christliche Pilger würden die Stätte auf jeden Fall auch weiterhin aufsuchen und verehren, selbst wenn das Gebäude dem Erdboden gleichgemacht wäre, und sie erinnerten Saladin daran, dass Umar, der erste muslimische Eroberer Jerusalems, die Kirche ebenfalls nicht angerührt habe.

Thomas Asbridge, „Die Kreuzzüge“, 2010, Verlag Simon & Schuster UK Ltd, London