Die Wählerinnen und Wähler laufen den großen Volksparteien CDU/CSU und SPD davon und zersplittern damit diese. Die kleinen Parteien Grüne, FDP, Linke und AfD profitieren von diesem Trend. Dadurch ist u.a. die SPD zu einer Randgruppenpartei geworden, obwohl diese eigentlich eine große Arbeitnehmerpartei sein sollte. Diese Wählerwanderung hat bedauerlicherweise die AfD größer gemacht als die SPD. Weder der konservative Teil der SPD noch die konservative Union kann den Wähleranteil, der zur AFD gewandert ist in ihren Reihen binden. Warum ist das so? Was sind die Hauptursachen? Was können wir tun, damit dieses besorgte Wählerpotential von der AfD zurück zu den großen Volksparteien wandert?
Ein Rückblick auf die Redemokratisierung nach 1945 soll den Zusammenhang beleuchten, wie konservative Kräfte in Deutschland durchaus bereit sein können, um mit progressiven Kräften zusammen zu arbeiten.
Steven Levitsky und Daniel Ziblatt [1] gehen detailliert auf diesen erfolgreichen Prozess ein:
…Und dort, wo sich eine konservative Partei erfolgreich reformiert, wirkt sie als Katalysator für die Wiedergeburt der Demokratie. Ein besonders dramatischer Fall war die Redemokratisierung Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Für diese Leistung verantwortlich war eine unterschätzte Entwicklung: der Neubau einer Mitte-Rechts-Partei, der Christlich Demokratischen Union (CDU), aus den Trümmern einer diskreditierten konservativen, rechtsgerichteten Tradition.
Vor den 1940er Jahren hatte es in Deutschland nie eine konservative Partei gegeben, die sowohl gut organisiert und bei Wahlen erfolgreich als auch gemäßigt und demokratisch war. Der deutsche Konservatismus litt stets unter Spaltungen und organisatorischer Schwäche. Insbesondere der emotional hoch aufgeladene Gegensatz von konservativen Protestanten und Katholiken schuf in der rechten Mitte ein Vakuum, dass extremistische und autoritäre Kräfte besetzen konnten. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit Hitlers Aufstieg an die Macht.
Nach 1945 formierte sich die rechte Mitte auf einer anderen Grundlage neu. Die CDU distanzierte sich von extremistischen und autoritären Kräften; ihre Gründer waren überwiegend konservative Politiker mit unangreifbarer antinazistischen Haltung wie Konrad Adenauer. In ihren Gründungserklärungen stellte die CDU klar, dass sie das vorangegangene Regime und alles, wofür es stand ablehnte. Wie radikal der Bruch war, deutete eine Äußerung von Andreas Hermes, dem Gründungsvorsitzenden der CDU in der Sowjetischen Besatzungszone, aus dem Jahr 1945 an: „Versunken ist eine alte Welt und eine neue wollen wir bauen…“ Die CDU entwarf für Deutschland ein klares Bild einer demokratischen Zukunft: „christliche “ Gesellschaft, die der Diktatur ablehnend gegenübersteht und auf Freiheit und Toleranz beruht.
Zudem verbreiterte und diversifizierte die CDU ihre Basis, indem sie sowohl Katholiken als auch Protestanten in die Partei aufnahm. Dies war eine Herausforderung, aber das Trauma der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs brachte führende konservative, katholische wie protestantische Politiker dazu, ihre althergebrachten Differenzen, welche die deutsche Gesellschaft einst gespalten hatten, zu überwinden.“Das enge Miteinander von Katholiken und Evangelischen“, erklärte ein regionaler CDU-Politiker, „welches sich in den Zuchthäusern, Gefängnissen und KZs abspielte, beendete die alte Zwietracht und begann Brücken zu schlagen.“ Während frisch gebackene CDU-Politiker (katholische und protestantische) in den Gründungsjahren 1945/46 von Tür zu Tür gingen und mit Katholiken und Protestanten sprachen, schmiedeten sie eine neue Mitte-rechts-Partei, die die deutsche Gesellschaft umgestalten sollte. Die CDU wurde eine Säule der westdeutschen Nachkriegsdemokratie.
Leider ging der Union und der SPD in den letzten 13 Jahren der Amtszeit von Frau Dr. Angela Merkel ein großer Teil der konservativen Wählerinnen und Wähler an die AfD verloren. Die Ursache für dieses Phänomen ist gemäß einer Studie der Bertelsmann Stiftung u.a. auf die Bedrohungsängste, die im Rahmen der Globalisierung entstanden sind, zurück zu führen. Demnach antworteten 35 bis 55 Prozent der Europäer auf die Frage, ob die Globalisierung als Chance oder als Bedrohung wahrgenommen wird, mit letzterer Einschätzung (Timo Lochocki [2]). Hierbei liegt Deutschland mit ca. 45 Prozent Globalisierungsskeptikern noch im Lager der „globalisierungsfreundlichen“ Demokratien [2].
Timo Lochocki [2] stellt fest:
…In Deutschland scheiterten Rechtspopulisten vor allem daran, dass die CDU/CSU und die SPD vor der Flüchtlingskrise von 2015 in den wenigen leidenschaftlichen und öffentlich geführten Debatten über Identitätspolitik einen wirksamen Bürgerlichen Kompromiss schmiedeten…
…Entscheidend ist vielmehr, wann etablierte politische Kräfte (nicht die Populisten, die machen das sowieso immer) diese Fragen thematisieren und wie parteiinterne Mechanismen dann welchen Lösungsweg in den Vordergrund rücken…
…der CDU/CSU und vor allem ihren konservativen Kräften (und eventuell auch solchen in der SPD) kommt in den nächsten Jahren eine Schlüsselrolle zu…
…gänzlich unabhängig von den ökonomischen, wirtschaftlichen und vielleicht auch militärischen Folgen dieser konservativen Vorschläge wird sich daran die Zukunft der deutschen Volksparteien entscheiden…
Man sieht, dass in Zukunft mehr die Bedrohungsängste des konservativen Anteils der Wählerinnen und Wähler in der Politik berücksichtigt werden sollten. Insbesondere die progressiven Kräfte in der SPD müssen abweichen von ihren Forderungen mehr Randgruppen in der Politik zu berücksichtigen! Zur Zeit ist die die SPD nur noch eine Randgruppenpartei und keine Arbeitnehmerpartei mehr. Die SPD ist jedoch traditionell eine Arbeitnehmer und Aufsteigerpartei! Sie sollte die Bedrohungsängste und Belange der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, insbesondere des konservativen Anteils der Arbeitnehmer in Zukunft ernster nehmen, wenn sie als Volkspartei überleben möchte. Die Randgruppen müssen zukünftig zurückstehen, wobei sie nicht vergessen werden dürfen. Die Wahlen werden in der Mitte-Rechts gewonnen und nicht in den Randgruppen.
Damit das Sicherheitsbedürfnis des konservativen Anteils der Bürgerinnen und Bürger gewährleistet wird, spricht viel für die folgende Option (Lochocki [2]):
…Deutschland muss sehr schnell sicherheits- und militärpolitisch erwachsen werden. Wir müssen in der Lage sein, das zu bewahren und zu schützen, was uns Sicherheit und Wohlstand schenkt: allem voran Europa, mit der Eurozone im Besonderen…
Hieraus folgt, dass im Idealfall die parteipolitische Kommunikation deutscher Identitätspolitik gemäß Lochocki [2] folgendermaßen durchgeführt werden sollte:
…Erstens, sie überzeugt globalisierungsskeptische deutsche Wähler, die mit der AfD sympathisieren; sie stärkt zweitens prodeutsche und proeuropäische Parteien in unseren Partnerstaaten; drittens, sie erlaubt eine langfristig angelegte, internationale Kooperation, um globalen Herausforderungen wirkungsvoll begegnen zu können…
Damit diese Forderungen erfüllt werden können, sind die großen Volksparteien CDU/CSU und SPD besonders gefordert. „Die CDU muss vermeiden, dass [solch] ein Cameron-Moment (BREXIT) in einigen Jahren in deutschen Geschichtsbüchern steht“.[2]
Auf die SPD kommt die schmerzhafte Aufgabe zu: Sie muss verhindern, den offenen Konflikt mit der CDU/CSU in identitätspolitischen Fragen zu suchen.
Timo Lochocki konsterniert:
…Die SPD muss die progressiven Pyrrhussiege ihrer europäischen Schwesterparteien die erheblich zum Aufstieg von Rechtspopulisten beitrugen, unbedingt vermeiden. Sie muss stattdessen darauf hinwirken, dass sozial- und wirtschaftspolitische Debatten wieder die nationale Agenda bestimmen. Denn gerade hier haben die Sozialdemokraten die besten Chancen…
…Die SPD darf natürlich weiterhin für die Interessen erwerbstätiger Frauen, Homosexueller und Mitbürger mit Migrationshintergrund eintreten. Aber sie muss darauf achten, dass dies nicht zum Leitnarrativ ihrer Politik wird. Denn diese Themen sind viel zu weit weg von den Alltagsproblemen der wahlentscheidenden Bevölkerungsschichten…
In den Fokus gehören also nicht die Themen Minderheitenschutz, Frauenrechte und eine progressive Weltordnung, sondern Arbeitnehmerschutz (Stärkung der Betriebs- und Personalräte), Wirtschafts- und Sozialstaatsreformen und lokale Daseinsvorsorge.
Lochocki stellt fest:“Die Studie Rückkehr zu den politisch Verlassenen von Johannes Hillje und dem Progressiven Zentrum liefert sehr bemerkenswerte Impulse“.
Lochocki weiter:
…Die SPD muss daher ihren progressiven Kräften nahebringen, dass es langfristig gerade in ihrem Interesse liegt, kurzfristig – also im Verlauf medienwirksamer parteipolitischer Konflikte über Identitätspolitik – zurückzustecken…
„Wenn die nächsten drei Jahre weder medienwirksame Bürgerliche Kompromisse in identitätspolitischen Fragen (Außen-, Europa- und Migrationspolitik) noch eine Polarisierung der Volksparteien in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen mit sich bringen, wird die AfD bald denselben destruktiven Einfluss haben wie Rechtspopulisten anderer Staaten“.
Ich denke, wir sollten zukünftig alle demokratischen Kräfte bündeln und alles tun, um die o.g. Forderungen auf Machbarkeit überprüfen und umsetzen. Die rechtspopulistische Partei AfD braucht niemand; sie wirkt nur destruktiv und liefert keine humanitären politischen Lösungen. Dieses ist unverantwortlich. Sie ist cleverer als es die NSDAP war! Denn sie tarnt sich mit Aussagen, dass sie dass Grundgesetz akzeptiert, will aber insgeheim die Zerstörung unseres bewährten, demokratischen Systems, belegt die Aussteigerin Franziska Schreiber [3] in ihrem neuen Buch.
[1] Steven Levitsky / Daniel Ziblatt, „Wie Demokratien Sterben“, 1. Auflage Mai 2018, Verlagsgruppe Random House FSC Noo1967, Deutsche Verlags-Anstalt, München
[2] Timo Lochocki, „Die Vertrauensformel“, Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
[3]Franziska Schreiber, “ Inside AfD“, 2018 Europa Verlag GmbH & Co. KG, München