Sicherheitsrisiko für die Große Koalition

Aber die Führung der sozialdemokratischen Parteien ging von der Genossenschaftsbewegung auf utilitaristische Technokraten und rawlsianische Juristen über. Ihre Ehtik spricht die meisten Menschen nicht an, und Wähler kehren sich allmählich von ihnen ab. Paul Collier [1]

[1] Paul Collier, Sozialer Kapitalismus, Kapitel 10, S. 275ff, Erste Auflage, 2018 by Paul Collier, 2019 für die deutsche Ausgabe by Siedler Verlag, München

Die gegenwärtige Krise der SPD in Deutschland führt möglicherweise zu einer Destabilisierung der sogenannten Großen Koalition von CDU/CSU und SPD. Diese GroKo wird nicht mehr von der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler bedingungslos getragen. Die Erosion der Stimmenanteile der Wähler zeigt sich täglich in den Meinungsumfragen der einschlägigen Institute in Deutschland. Die AfD stößt mit Hass und Hetze in dieses Machtvakuum. Sie ist mittlerweile in fast allen Landesparlamenten sowie im Deutschen Bundestag vertreten. Besonders bei der letzten Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen wird das Vordringen der in Teilen rechtsextremistischen AfD deutlich sichtbar. Der Machtanspruch dieser Partei wächst daher immer mehr. Er ist bei fast einem Drittel Wählerstimmen in Brandenburg und Sachsen angekommen.

Es stellt sich die Frage, woher kommt dieser Trend der Abkehr eines Teils der Wählerinnen und Wähler von den großen Volksparteien CDU/CSU und SPD. Was haben diese Volksvertreter falsch gemacht in der Vergangenheit; und was machen sie weiter falsch im politischen Alltag.

Wie kann zukünftig der Wählerwille zutreffender und damit zufriedenstellender im Sinne der Wählerinnen und Wähler umgesetzt werden?

Zunächst muss die Entfremdung des Wählers gegenüber den Regierenden und den Führungsgremien der großen Volksparteien offensiv begegnet werden.

Jean Ziegler [2] beschreibt den Prozess der Entfremdung in seinem Buch anhand von praktischen Beispielen:

Die Strategie der deutschen Kapitalisten lief nämlich zwangsläufig auf einen massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Schwerindustrie hinaus – in der Stahlindustrie, der Maschinenindustrie etc.

Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder leitete diese Sitzung der Sozialistischen Internationalen. Er erklärte uns, dass er durchaus Verständnis für die Wut und Sorgen der Demonstranten habe, aber dass man nichts machen könne.

Offensichtlich bestand das Problem nicht in den Kräfteverhältnissen zwischen Regierung und Kapitalisten,, sondern vielmehr in dem Umstand, dass Schröder am neoliberalen Obskurantismus festhielt und sich ihm freiwillig unterwarf. Wörtlich sagte er: „Niemand kann etwas gegen die Kräfte des Marktes ausrichten. Die Industriellen an der Ruhr gehorchen den Gesetzen des Weltmarktes. Persönlich bedaure ich die Entscheidung… Aber es wäre ein gefährliche Torheit, sich dem Markt zu widersetzen.“

Ist dem sympathischen Schröder Doppelzüngigkeit zu unterstellen? War er, wie seine Kritiker im sozialistischen Lager glaubten, mit den deutschen und russischen Oligarchen verbandelt? Ich glaube nicht. Während ich zuhörte, wie er seine Untätigkeit rechtfertigte, war ich von seiner Ehrlichkeit vollkommen überzeugt. Ich erinnerte mich an einen Ausspruch von Pierre Bourdieu: „Der Neoliberalismus ist eine scharfe Waffe. Er setzt einen ökonomischen Fatalismus in die Welt, dem gegenüber jeglicher Widerstand vergeblich zu sein scheint. Der Neoliberalismus ist wie Aids. Er zerstört die Abwehrkräfte seiner Opfer.“ Das heißt, er lähmt sein Opfer, indem er es von dessen eigener Ohnmacht überzeugt.

Die größten Unternehmen an Rhein und Ruhr, die häufig auch die gewinnträchtigsten waren, verlagerten ihre Produktionsstätten ins Ausland. Gerhard Schröder verlor 2004 die Wahlen und das Kanzleramt.

Entfremdung ist ein sehr geheimnisvoller Prozess. Er führt dazu, dass Frauen und Männer freiwillig gegen ihre eigenen Interessen denken und handeln… sie ist die Hauptwaffe der Kapitalisten für die Beherrschung von Bewusstsein und Denken anderer Menschen…


[2] Jean Ziegler, Was ist so schlimm am Kapitalismus, S. 106, 1. Auflage, 2018 by Jean Ziegler, 2019 für die deutschsprachige Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag, München

Diese Entfremdung der Menschen, die durch den Neoliberalismus Jahrzehnte lang weltweit stattgefunden hat, führte offensichtlich zu einem Vertrauensverlust der Wählerinnen und Wähler in die gewählten Volksvertreter. Die AfD in Deutschland nutzte und nutzt diesen Vertrauensverlust gegenüber den Politikern rigeros.

Die SPD besonders und auch CDU/CSU leiden extrem in diesem Prozess. Dieser Vertrauensverlust wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt die vielen Parteivorsitzenden, die die SPD in den vergangenen Jahrzehnten verschlissen hat. Trotzdem geht das Siechtum der SPD weiter. Sie suchen mal wieder einen neuen Parteivorsitzenden/-vorsitzende nachdem auch Andrea Nahles den Kampf gegen die Linken in der SPD aufgegeben hat.

Die Frage ist, warum handelten die etablierten Parteien nicht weiter pragmatisch? Warum wurde der arrogante Liberalismus das Hauptcredo fast aller Parteien? Wahrscheinlich war der Wähler selber, der diesen einforderte.

Paul Collier [1] stellt fest:

Der Pragmatismus fordert Menschen auf, herauszufinden, was die beste Lösung in einer gegebenen Situation ist, indem sie auf die besonderen Umstände achten, um mithilfe praktischer Vernunft zu beurteilen, ob vorgeschlagene Lösungen tatsächlich etwas taugen.

Gut informierte Wähler sind das höchste öffentliche Gut, und wie bei allen öffentlichen Gütern hat jeder Einzelne kaum Anreize, es bereitzustellen.

Der Pragmatismus hat zwei Feinde: Ideologien und Populismus, und beide ergriffen ihre Chance. Die Ideologien der Linken und der Rechten behaupten, dass Kontext, Besonnenheit und praktische Vernunft durch eine Allzweckanalyse umgangen werden könnten, die Wahrheiten ausstößt, die für sämtliche Kontexte und alle Zeiten gelten. Der Populismus bietet eine andere Abkürzung an: charismatische Persönlichkeiten, die so offensichtliche Lösungsansätze präsentieren, dass sie unmittelbar verständlich sind. Oftmals verschmolzen Ideologien und Populismus, wurden so noch wirkungsmächtiger: ehedem diskreditierte Ideologien, die durch leidenschaftliche, verlockende neue Heilmittel hausieren gehende Anführer aufgemöbelt wurden. Heil den Vorboten: Bernie Sanders, Jeremy Corbin und Jean-Luc Mélenchon von der radikalen Linken; Marine Le Pen und Norbert Hofer von den Nativisten; Nigel Farage, Alex Salmond und Charles Puigdemont von den Sezessionisten; und Beppo Grillo und Donald Trump aus der Welt der prominenten Unterhaltungskünstler.

Gegenwärtig wird das politische Schlachtfeld anscheinend von beunruhigten, aufgebrachten utilitaristischen und rawlsianischen Avantgarden beherrscht, die von populistischen Ideologen angegriffen werden.

Damit scheint ein politisches Desaster vorprogrammiert. Um es abzuwenden, bedarf es eines grundlegenden Wandels, der nur dadurch zustande kommen kann, dass wir unsere Politik mit einem anderen ethischen Diskurs verbinden.

[1] Paul Collier, Sozialer Kapitalismus, Kapitel 10, S. 276ff, Erste Auflage, 2018 by Paul Collier, 2019 für die deutsche Ausgabe by Siedler Verlag, München

Besonders wichtig ist, die Stabilisierung des Systems Deutschland aufrecht zu erhalten. In dieser Auseinandersetzung ist wesentlich, dass die Volksparteien wieder in Richtung Mitte rücken sollten. Eine weitere Voraussetzung für einen notwendigen Pragmatismus in der Politik wäre die Änderung der Regeln für die Wahl der Parteivorsitzenden, die weit demokratischer wären als die gegenwärtigen Vorschriften.

Collier fordert: Am einfachsten wäre es, nur die gewählten Abgeordneten der Partei den Parteivorsitzenden bestimmen zu lassen. Gewählte Vertreter haben zwei Eigenschaften, die dafür sorgen, dass sie besser geeignet sind, einen Vorsitzenden auszuwählen, als die Parteimitglieder. Zum einen sind sie daran interessiert, eine größere Gruppe von Wählern anzusprechen; das lässt sie zu gemäßigten Kandidaten tendieren. Zweitens lassen sie sich als Insider nicht so leicht von ausgebufften Tricks, wie sie medienerfahrene Prominente beherrschen, ins Bockshorn jagen: Sie sind wohlinformierte Wähler.

Gewählte Vertreter haben eine größere demokratische Legitimation als Parteimitglieder; insgesamt repräsentieren sie viel mehr Anhänger der Partei als die Zahl in den offiziellen Mitgliederverzeichnissen.

Da der durchschnittliche Wähler kaum etwas über die Kandidaten weiß, neigt er charismatischen Populisten zu.

Sollte eine Reform der Statuten über die Wahl des Parteivorsitzenden nicht möglich sein, ist die beste Alternative vermutlich ein Wahlsystem, das bis zu einem gewissen Grad auf dem Verhältniswahlrecht basiert. Dieses hat Nachteile, aber immerhin halten Koalitionen Parteien davon ab, ideologische Programme umzusetzen, und sie fördern einen Pragmatismus, der sich an dem orientiert, was sich praktisch bewährt hat.

[1] Paul Collier, Sozialer Kapitalismus, Kapitel 10, S. 281ff, Erste Auflage, 2018 by Paul Collier, 2019 für die deutsche Ausgabe by Siedler Verlag, München

Nach den schlimmen Erfahrungen der SPD mit ihren Parteivorsitzenden in der Vergangenheit, versucht sie nun per Regionalkonferenzen und Mitgliedervotum eine neue Doppelspitze für den neuen Parteivorsitz zu finden. Es gibt eine reichliche Anzahl von Bewerbern für den Parteivorsitz. Die SPD macht also genau das Gegenteil bei der Wahl des Parteivorsitzenden, wie Collier vorschlägt. Die SPD geht nicht nach sachlichen Kriterien vor, sondern bestimmt die neue Parteispitze nach statistischen Verfahren. Das kann funktionieren, muss es aber nicht. In der Vergangenheit wählte das Präsidium ihren Vorsitzenden; bzw. der Kanzler hatte auch meistens den Parteivorsitz inne. Sollte dieses nach statistischen Regeln durchgeführte Wahlverfahren scheitern, wird es schwierig für die Partei und damit auch für den Erhalt der Regierungsmacht.

Veröffentlicht von

Reservisten-Rührt-Euch!

Ich bin Mitglied im Reservistenverband. Auftrag des Reservistenverbandes ist die Durchführung der Sicherheitspolitischen Arbeit für die Bundeswehr. Hieraus leitet sich die Mittler-Aufgabe für die Bundeswehr in der Zivilgesellschaft ab.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert