Die SPD hat in Folge drei Wahlkämpfe (2009, 2013, 2017) nach 1998 verloren. Sie konnte die Mittelschicht nicht erreichen, so wie noch Gerhard Schröder 1998. Wie konnte das passieren?
Peer Steinbrück [1] analysiert messerscharf: Die Funktionäre und Mandatsträger der SPD setzen sich für Minderheiten ein, vergessen dabei aber die Mehrheiten der Mitte. Diese Funktionäre und Mandatsträger sind nicht in der Lage die Realitäten zu erkennen: Die Mitte erwartet „Innere Sicherheit und Ordnung“; die Funktionäre und Mandatsträger sehen jedoch eher die Rechte von Schwulen und Lesben im Vordergrund stehen, obwohl empirisch ermittelt wurde: …73 Prozent der Befragten [meinen], dass die Politik mehr tun müsse, um die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten… stellt Peer Steinbrück fest. Zudem konzidiert Steinbrück: …Am 24. September [2017] erhielten die großen Parteien die Quittung dafür, dass sie dem Thema Flüchtlinge, Zuwanderung und Integration auch im Kontext der inneren Sicherheit ausgewichen waren…
Als wesentliches Manko der SPD erkennt Steinbrück, dass sich die SPD offensichtlich um sich selbst dreht:
…Weil das interne Gespräch dominiert, fehlen der SPD bis heute eine intelligente Analyse des digitalen Kapitalismus in seinen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Auswirkungen und einigermaßen barrierefreier Zugang zur „produktiven Klasse“ mit ihren Wissensarbeitern“…
…Die Folge ist, dass eine schweigende Mehrheit sich abwendet und den Kreis des Politischen und der Politik entweder ein für allemal verlässt oder sich eine neue politische Adresse sucht…
Steinbrück fasst vier wichtige Gründe zusammen, die zum politischen Kursverfall der SPD entscheidend beigetragen haben:
- …ihrer historischen Funktion, ein Gegengewicht zu einem entfesselten und entgrenzten Kapitalismus zu sein, zu wenig Folge leistet,
- in ihrem Universalismus allem Bodenständigen in Sport-, Mieter-, Kleingarten-, Karnevals-, Schulvereinen und so weiter als „kleinbürgerlich beschränkt“ entsagte,
- in ihrem Verständnis als Gesamtbetriebsrat der Nation zwar Unwuchten zu korrigieren sucht, aber keine faszinierende Zukunftsidee und Horizonterweiterung lieferte und
- in ihrer Minderheitenpolitik und „Vielfaltseuphorie“ den Erwartungen und Anliegen einer Mehrheitsgesellschaft, die durchweg nicht aus Entrechteten und Geknechteten besteht, nicht genügend Aufmerksamkeit widmete.
Heiko Maas [2] kommt zu dem Schluss, dass die soziale Frage wieder gestellt werden muss:
…Die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Die Frage nach anständigen Löhnen, nach bezahlbarem Wohnraum, nach gesicherter Versorgung im Alter. Wenn die Politik in den letzten beiden Jahrzehnten versäumt hat, Sorgen der Bevölkerung ernst zu nehmen, dann vor allem diese. Zugleich haben wir zugelassen, dass Rechtspopulisten die echten Sorgen verschleiern, indem sie durch herbeigeredeten Ängsten ersetzen.
…Das immer mehr Menschen in Deutschland ihre Miete nicht bezahlen können: Das ist ein echtes Problem. Das Familien immer öfter zwei Einkommen brauchen, um über die Runden zu kommen; dass viele Menschen jahrelang auf Hartz IV hängen bleiben und dann als stigmatisiert gelten; dass diejenigen, die Arbeit haben, häufig nur befristete Verträge bekommen, obendrein zu oft in Leih- und Zeitarbeitsmodellen, die das Leitbild der sozial abgesicherten, dauerhaft Beschäftigung aushöhlen; dass viele Rentner nur so gerade das Existenzminimum haben: Das sind echte Probleme.
Zudem stellt Maas Fragen, wo sozialpolitischer Handlungsbedarf besteht:
…das nach wie vor undurchlässige Bildungssystem in Deutschland, das dazu beiträgt, prekäre Lebensverhältnisse über Generationen hinweg zu zementieren,…zu überwinden.
… Leistungsgerechtigkeit. Wir müssen sicherstellen, dass die Arbeitenden bei uns angemessen entlohnt werden.
…Weiter zurückdrängen müssen wir die Leih- und Zeitarbeitsmodelle, die ein Hauptsymptom für die neoliberale Prekarisierung das Arbeitsmarktes sind.
…Gegen Steuerflüchtlinge vorgehen anstatt gegen Flüchtlinge zu hetzen! Selbst der jeden Linksdrall unverdächtige Focus beziffert die Summe, die dem deutschen Fiskus pro Jahr durch Steuerflucht entgeht, auf 100 Milliarden Euro. Das ist ein Vielfaches der Kosten, die dem Staat durch Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten entstehen. Doch ausgerechnet beim steuerlichen Bankgeheimnis – das für Steuerhinterzieher die wichtigste Verdunklungsmöglichkeit bildet und dringend abgeschafft gehört – entdeckt die AfD ihr Herz für den Datenschutz.
Weiterhin fordert Maas dazu auf, sich gegen den sogenannten, gefühlten Kontrollverlust zu wehren:
…Den Zusammenhang zwischen der weltweiten Finanzkrise und der Popolismuswelle sollten wir ohne Scheu benennen und ergründen.
…wir sollten ruhig nachfragen, wie sie [AfD] es denn mit dem tatsächlich außer Kontrolle geratenen Abstrom von Steuerflüchtlingen halten.
Zudem stellt sich die Frage, welche Zukunftsprobleme stellen sich auch für die SPD dar?
Christoph Bausum et. al. [3] sehen „Schwierige Probleme in Sicht“
…Für die Zukunft werden die UN und ihr Behördensystem weniger dazu beitragen, neue Verhaltensstandards in umstrittenen Entwicklungen wie Künstlicher Intelligenz, Genomchirurgie oder Human Enhancement zu setzen, weil Staaten, private Akteure und wissenschaftliche und technische Kreise divergierenden Werte und Interessen vertreten, weil in Fachwelt und Politik gewaltige Unterschiede bei den Wissensständen herrschen und weil sich der technologische Wandel deutlich schneller vollzieht, als Staaten, Behörden und internationale Organisationen Standards entwickeln, Weichen stellen, Regularien errichten und Normen vorgeben können. All diese Faktoren wirken Bemühungen, eine gemeinsame Agenda zu erstellen, bremsend entgegen.
Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD [4] gibt es viele gute Deutschland stabilisierende Ansätze, die zügig und für die Bürgerinnen und Bürger wirksam umgesetzt werden müssen. Erst wenn die Wählerinnen und Wähler erkennen, dass der durch die Finanzkrise 2008 und Flüchtlingskrise 2015 ausgelöste, gefühlte Staats-Kontrollverlust wieder glaubhaft hergestellt werden kann und wird; erst dann wird die Anhängerschaft der „Altparteien “ u.a. der SPD, wieder steigen. Daran muss die SPD glaubhaft arbeiten, wenn sie sich wirklich erneuern will.
[1] Peer Steinbrück, „Das Elend der Sozialdemokratie Anmerkungen eines Genossen“, Verlag C.H. Beck oHG, München 2018
[2] Heiko Maas, “ Aufstehen statt wegducken Eine Startegie gegen Rechts“, Piper Verlag GmbH, München 2017
[3] Christoph Bausum, Enrico Heinemann und Karin Schuler, „Die Welt im Jahr 2035 gesehen von der CIA und dem National Intelligence Council Das Paradox des Fortschritts“, Aus dem Englischen von Christoph Bausum, Enrico Heinemann und Karin Schuler“, 2. Auflage. 2018, Verlag C.H. Beck oHG, München 2017
[4]Michael Wolff, „Fire and Fury, Inside the Trump White House“, 2018 by Michael Wolff, Henry Holt Company, New York
[4] Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, „Ein neuer Aufbruch für Europa Eine neue Dynamik für Deutschland Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“, Berlin, 7. Februar 2018