Hamas und Hisbollah – eine Machtoption

„Die Hisbollah ist wie auch die palästinensische Hamas als Reaktion auf israelische Besatzung entstanden“, stellt Michael Lüders in seinem Buch IRAN: DER FALSCHE KRIEG fest.

Weiterhin führt er aus: „Diese Einsicht jedoch gilt in Israel wie auch in der westlichen Politik überwiegend als Blasphemie. Statt dessen gelten Hisbollah und Hamas fälschlicherweise als Teil eines globalen islamistischen Netzwerkes, mit engen Verbindungen zu Al-Kaida“.

Die Frage ist, was macht diese beiden Organisationen für die arabische Bevölkerung so attraktiv und wann sind sie entstanden?

Richard C. Schneider stellt in seinem Buch WER HAT SCHULD? WER HAT RECHT? wesentliche Zusammenhänge vor:

Die Hamas ist im Laufe der siebziger und achtziger Jahre gegründet worden. Anfangs unterstützte Israel die radikal-islamistische palästinensische Hamas.

Das Wort  „Hamas“ steht im Arabischen für „Harakat al-Muqawama al-Islamia“ und bedeutet allgemein „Islamische Widerstandsbewegung“, es bedeutet aber auch „Eifer“. Damit ist der allgemeine Charakter der Organisation umrissen.

Der Operationsraum der Hamas ist ausschließlich auf den Gazastreifen und das Westjordanland beschränkt.

Am Anfang wurde die Hamas überwiegend von Saudi-Arabien finanziell unterstützt.

Israel wollte die Hamas als Gegengewicht zur säkularen PLO unterstützen, weil der Führer der PLO, Jassir Arafat, als Erzfeind betrachtet wurde.

Bis in die 80ziger Jahre konzentrierte sich die Hamas auf soziale Fragen, sie prangerte Korruption an, verwaltete Spenden und verteilte Geld an Arme, organisierte Projekte für die Bedürftigen der palestinensischen Bevölkerung. Auf diese Weise sammelte die Hamas Sympathie, Unterstützung und Zulauf.

Die Hamas war einerseits in Gaza überaus aktiv und andererseits im Westjordanland, den Westbanks, relativ inaktiv, weil damals die „Muslimbruderschaft“ noch einen integralen Bestandteil der jordanischen islamischen Bewegung bildete.

Die Muslimbruderschaft vertrat damals noch die besser gestellte Schicht der Hamas: Kaufleute, Grundbesitzer und die berufliche Mittelschicht der Palästinenser.

Der damalige Führer der Hamas, Achmed Jassin, kam aus Nähe der israelischen Stadt Aschkelon. Er kam nach dem Unabhängigkeitskrieg Israels als Flüchtling 1948 in den Gazastreifen. Jassin studierte an der Al-Azhar-Universität in Kairo, als die islamistischen Bewegungen innerhalb der Studentenschaft besonders aktiv war.

Jassins Nachfolger wurde Achmed Rantissi aus der Nähe von Jaffa, Stadt im Kernland Israels. Auch Rantissi war 1948 nach dem Unabhängigkeitskrieg als Flüchtling nach Gaza gekommen. Er studierte Medizin in Ägypten, praktizierte dort aber nie als Arzt. 1976 kehrte er nach Gaza zurück. Auch er war während seiner Studentenzeit zur Muslimbruderschaft gestoßen. Er löste die Erste Intifada aus. Unter dem Eindruck der Intifada begann er seine mutige Friedenspolitik, die zum Friedensvertrag von Oslo 1993 führte.

Rantissi wurde bald zur rechten Hand von Scheich Jassin und gehörte somit zum innersten Führungszirkel der Hamas.

Der militärische Kampf der Hamas gegen Israel entwickelte sich stufenweise.

1992 wurde der militärische Arm der Hamas gegründet und organisiert.

Ein Ziel hatte die Hamas aber nie: die USA. Bis heute wurden nie US-amerikanische Einrichtungen direkt angegriffen.

Die eigentliche Basis für ihren Erfolg schuf sich die Hamas jedoch mit Sozialprogrammen. Eine Vielzahl von Erziehungs- und Hilfsprogrammen haben der islamistischen Organisation viel Sympathie eingebracht.

Hamas hat aus ehrlicher Anteilnahme das Geld der armen Bevölkerung zur Verfügung gestellt. Ihre Führer gelten als ehrlich, Korruption kennt man aus den Reihen der Hamas nicht.

Für die Entwicklungsgeschichte der Hamas ist der Friedensprozess von Oslo von entscheidender Bedeutung.

Nach dem israelischen Abzug aus Gaza im Sommer 2005 begann die Hamas ihre Macht im Gazastreifen endgültig zu konsolidieren.

Obwohl die Hamas inzwischen den Ministerpräsidenten der palästinensichen Regierung stellt, Ismail Hanije, so ist die eigentliche Führung der Organisation im Ausland, im Exil. Von Damaskus aus steuert Khaled Meshal die Geschicke der Bewegung.

In jüngster Zeit hat sich die Hamas zunehmend dem Iran angenähert. Die engen Verbindungen mit der Hizbollah im Libanon mögen dazu beigetragen haben, vor allem aber der internationale Finanzboykott seit ihrem Wahlsieg 2006. Die Unterstützung der palästinensischen Behörden wird dann wieder aufgenommen, wenn die Hamas die drei Forderungen des Westens erfüllt: Anerkennung Israels, das Ende der Terroraktionen und die Anerkennung der zwischen den Palästinensern und Israels bereits unterschriebenen Vereinbarungen. Nichts dergleichen will die Hamas jedoch tun. Und so versorgt sie sich mit Geld aus dem Iran.

Der Iran, der wegen seines Atomprogramms mit dem Westen auf Konfrontationskurs gegangen ist, ist bereitwillig eingesprungen, und verfolgt nun mit der Hamas eine ähnliche Politik wie mit der Hizbollah im Libanon.

Das funktioniert, weil die sunnitische Hamas mit der schiitischen Hizbollah viel gemeinsam hat: die totale Ablehnung der Existenzberechtigung Israels, eine ähnliche Haltung zum Märtyrertum.

Mit Hilfe der Hamas kann die Hizbollah in den besetzten Gebieten politisch und militärisch leichter Fuß fassen. Damit kann der Iran als neue Großmacht im Nahen Osten die Führung der islamischen Welt übernehmen und Israel vernichten.

[1] Richard C. Schneider, “ WER HAT SCHULD? WER HAT RECHT? Was man über den Nahostkonflikt wissen muss“, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2007

[2] Michael Lüders, „IRAN: DER FALSCHE KRIEG Wie der Westen seine Zukunft verspielt“, Verlag C.H. Beck oHG, München 2012

Moslembruderschaft – ihr Einflußbereich!

Wer sind die Moslembrüder, wo und wann sind sie das erste mal aufgetreten? Wer war ihr Führer? Was wollte er bewirken? Wofür stehen sie heute?

Die Moslembruderschaft wurde 1928 von Hassan al-Banna gegründet. Al-Banna war Arabischlehrer in einer Grundschule in der Stadt Ismalia am Suezkanal. Er blieb bis zu seiner Ermordung 1949 der oberste Führer der Moslembrüder. Er verlangte von seinen Anhängern unbedingten Gehorsam: die volle Einhaltung der Befehle der Führung, die sofortige Ausführung dieser Befehle im Schwierigen wie im Guten.

Die Entstehung der Moslembruderschaft geht wahrscheinlich auf verschiedene Ereignisse zurück: die Geburt von Präsident Mubarak im selben Jahr, dem Sturz des osmanischen Reiches im Jahre 1924, der Kontrolle des saudischen Königshauses über weite Teile der arabischen Halbinsel 1926.

Es kam zu einer Identitätskrise nach dem Ende des islamischen Kalifats in Istanbul. Viele versuchten ihr Heil im Sozialismus und Nationalismus. Diese Ideen wurden aus Europa importiert.

Christliche Syrer und Ägypter predigten Panarabismus, weil sie Angst vor dem Aufstieg des Islamismus hatten. Dieser Islamismus richtete sich gegen türkische, britische und französische Kolonialherrschaft!

Der Traum eines islamischen Kalifats blieb aber virulent bestehen:

Der Aufstieg der Saudis auf der arabischen Halbinsel und die Errichtung des Königreiches Saudi-Arabien näherte in einigen Muslimen die Hoffnung auf ein neues arabisch-islamisches Kalifat (Hamed Abdel-Samad, „Krieg oder Frieden“)

Hassan Al-Banna wollte den Gottesstaat wieder herstellen! Saudi-Arabien spendete aber nicht zuerst für die Gründung der Bewegung der Moslembruderschaft, sondern der französische Direktor der Suezkanal-Firma.

Warum machte er das? Der Wanderprediger und Arabischlehrer Al-Banna warb als Sozialreformer für die Jugend bei den Franzosen um Spenden. Er hatte ein starkes Charisma und gute Verbindungen zu der renommierten religiösen Institution Al-Azhar.

Der salafistische syrische Gelehrte Rashid Reda überzeugte Saudi-Arabien, dass Al-Banna Spenden für sein Projekt „Gründung der Moslembruderschaft“ benötigte.

Jörg Armbruster schreibt in seinem Buch: „Brennpunkt Nahost“:

Die Ideenwelt der Muslimbrüder, die von einem starken Schwarz-Weiß- und Gut-Böse-Denken und einer moralisierenden Weltsicht geprägt ist, fasste al-Banna so zusammen:

„Allah ist unser Ziel. Der Prophet unser Vorbild. Der Quran ist unsere Verfassung. Der Djihad ist unser Weg. Der Märtyrertod auf dem Pfad Gottes ist unsere unsere größte Hoffnung.“

Diese Zitate stammen zwar aus der Anfangszeit der Muslimbruderschaft, sie gelten aber bis in die Gegenwart und spielen auch heute noch eine aktive Rolle im Denken der Muslimbruderschaft.

Die Muslimbruderschaft ist dabei sich zu ändern – der Gewalt haben sie schon in den siebziger Jahren abgeschworen. In diesem Punkt unterscheiden sie sich zum Beispiel deutlich von der Hamas. Der Kommandostil und auch der Führerkult sind nicht beliebt bei Ägyptens Jugend.

Wegen ihrer Wohlfahrtsprogramme waren sie in der Bevölkerung angesehen. Sie behandeln in eigenen Krankenhäusern die Armen billiger und besser als staatliche Krankenhäuser. Außerdem konnten die Armen in Ägypten (etwa vierzig Prozent der Bevölkerung leben am Rande oder unter dem Existenzminimum) immer ihrer Hilfe rechnen, durften allerdings auch deren islamische Ideologie zumindest nicht in Frage stellen.

Die Hamas im Gazastreifen wurde von den ägyptischen Muslimbrüdern gegründet. Diese unterhalten wiederum enge Verbindungen zur „Islamic Action Front“ in Jordanien und zu ihren syrischen Muslimbrüder.

Die Rhetorik der Muslimbruderschaft sollte die Massen der Ägypter für eine Veränderung des politischen Systems gewinnen. Allerdings agierte die Bruderschaft fast immer staatstragend. Den Machthabern wurde fast immer ihre Loyalität zuteil, auch oft gegen die Interessen der Bevölkerung.

In den 40er Jahren war die Bruderschaft in zahlreiche Terroranschläge und politisch motivierte Attentate verwickelt. Die Muslimbrüder schlossen sich der Bewegung der freien Armeeoffiziere um Nasser an, die im Juli 1952 putschten, König Faruq ins Exil schickten und die arabische Republik Ägypten ausriefen.

Die Muslimbrüder versuchten, Nasser, der sich für den Sozialismus statt den Islam entschied 1954 nach der Rede in Alexandria zu ermorden. Der Mordversuch scheiterte.

Die künftige ideologische Richtung der Muslimbrüder gab Sayyed Qutb vor:

Hamed Abdel-Samand schreibt in seinem Buch: „Krieg oder Frieden“:

In seinem Artikel mit dem Titel „Amerika wie ich es sah“, den er in einer ägyptischen Zeitung veröffentlichte, beschreibt er den Westen als eine technisch entwickelte, aber moralisch barbarische Gesellschaft, die noch in der Dunkelheit der Dschahiliyya, also der Unwissenheit, lebt.

Nach seiner Rückkehr nach Ägypten beschäftigt er sich mit den Themen Islam und soziale Gerechtigkeit. Der frühere Marxist war Muslimbruder geworden. Seine Schriften zum Islam sind entscheidend für die Radikalisierung der Muslimbrüder in den folgenden Generationen.

Das Verhältnis der Muslime zum Westen wird in der Rhetorik der Muslimbrüder wie in den offiziellen Schulbüchern nicht zuletzt von zwei historischen Ereignissen und einem aktuellen Konflikt belastet. Es handelt sich zum einen um die Kreuzzüge und die Kolonialisierung und zum anderen um den akute Nahostkonflikt.

[1] Hamed Abdel-Samed, „Krieg oder Frieden Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens“, 2011, Droemer Verlag, München

[2] Jörg Armbruster, „BRENNPUNKT NAHOST Die Zerstörung Syriens und das Versagen des Westens“, Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013

Freiheit, Leben und Ehre der 30er Jahre

Der damalige Parteivorsitzende der SPD, Otto Wels, hielt am 23. März 1933 in der Krolloper zu Berlin im Weimarer Reichstag , seine letzte freie Rede, bevor er sich mit der überwiegenden Mehrheit der Stimmen als Verfassungsorgan selber entmachtete. Sein Versuch, angesichts der im Parlament aggressiv auftretenden Nationalsozialisten, den Widerstand der Sozialdemokraten gegen das Ermächtigungsgesetz auch mit Zitaten von Adolf Hitler zu begründen, wirkte nicht sehr kämpferisch.

Einige folgende, wesentliche Punkte der politischen Entwicklung sind meiner Ansicht wichtig:

  1. Der Sprecher der Zentrumspartei, der Bayrischen Volkspartei oder der Deutschen Staatspartei waren nicht mehr bereit, für den Erhalt der Weimarer Republik einzustehen.
  2. Das sogenannte Ermächtigungsgesetz setzte die erste demokratische Verfassung Deutschlands außer Kraft, und es waren die Abgeordneten der SPD, die gegen dieses Gesetz stimmten.
  3. Die Abgeordneten der KPD, die ihren eigenen Beitrag zum Niedergang der Republik geleistet hatten, konnten an der Abstimmung nicht mehr teilnehmen. Viele von ihnen waren bereits verhaftet, andere waren auf der Flucht.
  4. Die bürgerlichen Parteien hatten angesichts der Mehrheitsverhältnisse resigniert und hofften, durch ihre Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz, einige Positionen wahren zu können. An die Zukunft der Demokratie glaubten sie nicht mehr.

Weitere wichtige, beachtenswerte Punkte aus der Reichstagsrede von Otto Wels vom 23. März 1933:

Der außenpolitischen Forderung deutscher Gleichberechtigung, die der Herr Reichskanzler erhoben hat, stimmen wir Sozialdemokraten um so nachdrücklicher zu, als wir sie bereits von jeher grundsätzlich verfochten haben.

Der Herr Reichskanzler hat auch vorgestern in Potsdam einen Satz gesprochen, den wir unterschreiben: „Aus dem Aberwitz der Theorie von ewigen Siegern und Besiegten kam der Wahnwitz der Reparationen und in der Folge die Katastrophe der Weltwirtschaft.“ Dieser Satz gilt für die Außenpolitik; für die Innenpolitik gilt er nicht minder.

Auch hier ist die Theorie von ewigen Siegern und Besiegten, wie der Herr Reichskanzler sagte, ein Aberwitz. Das Wort des Herrn Reichskanzler erinnert uns aber auch an ein anderes, das am 23. Juli 1919 in der Nationalversammlung gesprochen wurde. Da wurde gesagt: „Wir sind wehrlos, wehrlos ist aber nicht ehrlos. Gewiss, die Gegner wollen uns an die Ehre, daran ist kein Zweifel. Aber dass dieser Versuch der Ehrabschneidung einmal auf die Urheber selbst zurückfallen wird, da es nicht unsere Ehre ist, die bei dieser Welttragödie zugrunde geht, das ist unser Glaube bis zum letzten Atemzug.“

Das steht in einer Erklärung, die eine sozialdemokratisch geführte Regierung damals im Namen des deutschen Volkes vor der ganzen Welt abgegeben hat, vier Stunden bevor der Waffenstillstand abgelaufen war, um den Weitermarsch der Feinde zu verhindern. – zu dem Ausspruch des Herrn Reichskanzler bildet jene Erklärung eine wertvolle Ergänzung. Aus dem Gewaltfrieden kommt kein Segen; im Innern erst recht nicht.

Eine wirkliche Volksgemeinschaft lässt sich auf ihn nicht gründen. Ihre erste Voraussetzung ist gleiches Recht. Mag sich die Regierung gegen rohe Ausschreitungen der Polemik schützen, mag sie Aufforderungen zu Gewalttaten und Gewalttaten selbst mit Strenge verhindern. Das mag geschehen, wenn es nach allen Seiten gleichmäßig und unparteiisch geschieht, und wenn man es unterlässt, besiegte Gegner zu behandeln, als seien sie vogelfrei.

Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht…

Die Zustände, die heute in Deutschland herrschen, werden vielfach in krassen Farben geschildert. Wie immer in solchen Fällen fehlt es auch nicht an Übertreibungen. Was meine Partei betrifft, so erkläre ich hier: wir haben weder in Paris um Intervention gebeten, noch Millionen nach Prag verschoben, noch übertreibende Nachrichten ins Ausland gebracht. Solchen Übertreibungen entgegenzutreten wäre leichter, wenn im Inland eine Berichterstattung möglich wäre, die Wahres vom Falschen scheidet…

Die Herren von der Nationalsozialistischen Partei nennen die von ihnen entfesselte Bewegung eine nationale Revolution, nicht eine nationalsozialistische. Das Verhältnis ihrer Revolution zum Sozialismus beschränkt sich bisher auf den Versuch, die sozialdemokratische Bewegung zu vernichten, die seit mehr als zwei Menschenaltern die Trägerin sozialistischen Gedankengutes gewesen ist und auch bleiben wird. Wollten die Herren von der Nationalsozialistischen Partei sozialistische Taten verrichten, sie brauchten kein Ermächtigungsgesetz…

Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern Männer aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offen steht…

Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit, der Freiheit und des Sozialismus…

Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten…

Die oben genannten Punkte zeigen, wie aktuell die Rede von Otto Wels ist im Umgang mit der AfD, Pegida und anderen extrem rechten Bewegungen der Gegenwart.

Martin Kaufhold, „Die großen Reden der Weltgeschichte“, 3. Auflage 2008, Marix Verlag GmbH, Wiesbaden 2007

Prekäre Lage der arabischen Welt

Die sicherheitspolitische, soziale und wirtschaftliche Lage in der arabischen Welt ist sehr zerbrechlich geworden nachdem die islamische Jugend begann die Welt zu verändern.

Hamed Abdel-Samad beschreibt in seinem Buch „Krieg oder Frieden“ die arabische Revolution und die Zukunft des Westen die Chance auf ein gedeihliches Miteinander von Abendland und Morgenland. Andererseits versucht er eine Prognose abzugeben,

„…ob in den destabilisierten Nationen Bürgerkriege und eine kollabierende Wirtschaft Hunderttausende, ja Millionen junger Menschen auf den Weg nach Norden zwingen, wo sie die überalterten Gesellschaften Europas zu überrennen drohen. Abdel-Samads Botschaft ist klar: Der Westen muss sich wirtschaftlich und politisch engagieren, um den Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive zu eröffnen.“

In seinem weiteren Buch „Der Untergang der islamischen Welt“ versucht er weitere Prognose für die Zukunft des Islam zu entwickeln. Er zitiert u.a. aus dem Buch „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler die folgende Passage:

„Zuletzt, im Greisentum der anbrechenden Zivilisation, erlischt das Feuer der Seele. Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal, mit halbem Erfolg – im Klassizismus, der keiner erlöschenden Kultur fremd ist, an eine große Schöpfung; die Seele denkt noch einmal – in der Romantik – wehmütig an ihre Kindheit zurück. Endlich verliert sie, müde, verdrossen und kalt, die Lust  am Dasein, und sehnt – wie zur römischen Kaiserzeit – aus tausendjährigem Lichte zurück in das Dunkel urseelenhafter Mystik, in den Mutterschoß, ins Grab zurück.“

Hamed Abdel-Samad analysiert weiter:

Während sich im Westen ein Gegenpol zum Materialismus und Konsumverhalten im kulturellen Repertoire der Aufklärung und des Humanismus findet, mangelt es dem gelebten Islam an einem eigenen gesunden Verteidigungsmechanismus gegen den Konsum, ohne ihn kategorisch auszuschließen und zu verdammen. Man könnte könnte sagen, Konsum ohne Kant führt zu Verwirrung. Indem die Mehrheit der Menschen in den islamischen Staaten die Instrumente und Produkte der Moderne verschlingt, sich dem dahinter stehenden Gedankengut aber nach wie vor verschließt, existiert sie in einem Zustand der Schizophrenie, der über kurz oder lang in Fanatismus oder kulturelle Verwahrlosung mündet – oder gar in beides zugleich.

Dieser Zustand ist längst eine Realität in der islamischen Welt und wird von vielen vereinfacht als ein Konflikt zwischen Tradition und Moderne gedeutet. Doch er verweist meines Erachtens auf den Zerfall einer Religion, die keine konstruktiven Antworten mehr bieten kann auf die Fragen des modernen Lebens und auf den Zerfall einer Kultur, die die eigene Besonderheit über den Wandel stellt, obwohl dieser Besonderheit keine Substanz mehr entspricht.

Was der Westen als Re-Islamisierung der islamischen Welt wahrnimmt, ist in Wirklichkeit nur ein Vorhang, der das Verschwinden der Religion verdecken soll.

Im Westen herrscht die Vorstellung, der Islam sei übermächtig und befinde sich auf dem Vormarsch. Die demographischen Entwicklungen in der islamischen Welt und in Europa sowie die blutigen Anschläge und schrillen Töne des fundamentalistischen Islam bestätigen viele Menschen im Westen in ihren Annahmen. Tatsächlich ist es  jedoch so, dass sich die islamische Welt in die Defensive gedrängt fühlt und gegen die in ihrer Wahrnehmung aggressive Macht- und Wirtschaftspolitik des Westens heftig protestiert.

Das Engagement der westlichen Mächte in Afghanistan und im Irak sowie die vielen ungelösten Konflikte in der islamischen Welt, von Tschetschenien bis Palästina, lassen Verschwörungstheorien über die hegemonialen Ansprüche und Bemühungen des Westens wuchern. Während viele Europäer die Islamisierung Europas und den Untergang des Abendlandes beschwören, sehen sich viele Muslime eher als Opfer eines westlichen Masterplanes, der die totale Kontrolle über die Ressourcen der Muslime und die Unterwanderung ihrer Heiligtümer vorsieht.

Jörg Armbruster beschreibt in seinem Buch „BRENNPUNKT NAHOST“ die Zerstörung Syriens und das Versagen des Westens u.a. den syrischen syrischen Teufelskreis:

Noch nie war die Lage in der arabischen Welt so zerbrechlich und angespannt wie heute. Das Alte scheint zu verschwinden. Dafür haben die Aufstände 2011 gesorgt. Unklar ist aber, was als Neues kommt.. Anfangs sah für einen kurzen Augenblick so aus, als kämpften die Tahrirplatz-Demonstranten für einen säkularen Staat. Doch stellte sich das schnell mehr als Wunschtraum denn als Realität heraus. Zumindest in Tunesien und Ägypten war schon früh klar, dass als Sieger nur die Muslimbrüder in Frage kommen, obwohl sie sich spät den aufständen angeschlossen hatten. Die ersten freien Parlamentswahlen haben sie dann auch erwartungsgemäß überwältigend gewonnen. In Ägypten zusammen mit den Salafisten mit einer Zweidrittelmehrheit. Zwei Jahre später allerdings ist ihr Traum von der Macht wieder zerplatzt. Das ägyptische Militär stürzt die frei gewählte Regierung der Muslimbrüder wegen anhaltender Proteste gegen den Präsidenten und seine gescheiterte Politik. In Tunesien ist die islamistische Enahda-Partei als stärkste Partei an einer Regierungskoalition beteiligt. Aber auch hier wachsen die Konflikte dem Land allmählich über den Kopf.

In Syrien ist aus den friedlichen Demonstrationen, mit denen der Konflikt 2011 begonnen hatte, eine Art Stellvertreterkrieg geworden, der immer mehr die Züge eines Religionskrieg annimmt. Schiiten gegen Sunniten, Katar und Saudi Arabien gegen den Iran und schließlich ein Wettkampf zwischen Russland und den USA, den Putin durchaus gewinnen kann. Die friedlichen Demonstranten von einst sehen sich an den Rand der jüngsten syrischen Geschichte gedrängt, dabei hatten sie nur Respekt, Würde, politische Teilhabe und ein besseres Leben gewollt. Anfangs hatten sie sogar darauf verzichtet, den Rücktritt Assads zu fordern. Das kam erst später. Auf den frischen Wind aus Ägypten und Tunesien hatten sie 2011 gesetzt und müssen nun erleben, wie ihr Land in einen zerstörerischen Tornado gerät.

[1] Hamed Abdel-Samed, „Krieg oder Frieden Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens“, 2011, Droemer Verlag, München

[2] Jörg Armbruster, „BRENNPUNKT NAHOST Die Zerstörung Syriens und das Versagen des Westens“, Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013

Syrischer Widerstand gegen die französischen Besatzer und Heimat von Terrorgruppen

Die Franzosen handelten nach dem Prinzip „teile und herrsche“. Sie formten Kleinstaaten aus ihren Mandatsgebieten. An der Spitze stand jeweils ein französischer Verwaltungsbeamter.

Einen eigenen Staat mit eigener Fahne und klaren Grenzen bekamen die Alawiten. Ein französischer Gouverneur entschied über die Politik.

Nach vier Jahren wurden die Teilstaaten aufgelöst und zu einer großen französischen Verwaltungseinheit zusammengefasst.

Nur der Alawitenstaat blieb.

Der Großvater des gegenwärtigen Präsidenten, Suleiman al-Assad, schrieb 1936 zusammen mit anderen führenden Alawiten in einem Brandbrief an den französischen Präsidenten Leon Blum:

„Der Geist von Hass und Fanatismus im Herzen der arabischen Muslime lässt sie jeden Nichtmuslim ablehnen. Da diese Haltung vom Islam ständig genährt wird, gibt es keine Hoffnung, dass sich daran etwas ändert.“

Die Unterzeichner fürchteten in einem Großsyrien als Minderheit von der sunnitischen Mehrheit wieder einmal verfolgt zu werden, sobald ihre Schutzmacht Frankreich aus Syrien abziehen sollte.

Im Jahre 1946 erhielt Syrien von der Kolonialmacht Frankreich seine Unabhängigkeit und wurde Republik.

Nur zwei Jahre später, 1948, erklärte Israel seine Unabhängigkeit.

Der erste israelisch-arabische Krieg brach aus, der aus israelischer Sicht sogenannte „Unabhängigkeitskrieg“. Syrien stellte damals den multinationalen arabischen Truppen nur eine kleine Zahl von Soldaten im Kampf gegen den jüdischen Staat zur Verfügung, gerade mal 2500 Mann, von denen lediglich 1000 auf israelischem Boden kämpften, der Rest blieb in Syrien stationiert.

Das hatte weniger mit Zuneigung für den Zionismus zu tun. Es war eher eine politische Unterwerfungsgeste gegenüber den Großmächten Frankreich, USA und Großbritannien. Präsident Shukir al-Kuwatli wollte sich nicht in deren Regionalpolitik einmischen. Es war aber auch ein Statement Syriens gegenüber dem Panarabismus, der damals in den arabischen Staaten vorherrschende Ideologie, die vorsah, einen nationalen Einheitsstaat für alle Araber zu schaffen.

Das Syrien also im Krieg gegen Israel nicht wirklich mit von der Partie war, war also ein klares Zeichen, dass die Regierung in Damaskus schon damals die eigenen Interessen über die der „arabischen Sache“, des arabischen Kollektivs stellte, was immer das auch jeweils bedeuten mochte.

Das es Israel damals gelang, die arabische Armee hinter die libanesische Grenze zurückzu drängen, ist also – aus heutiger Sicht geradezu unglaublich – quasi der syrischen „Nichteinmischung“ zu verdanken.

Nach der ersten arabischen Niederlage gegen Israel, die auf Arabisch „Nakba“ genannt wird, auf Deutsch: „Katastrophe“, offerierten die USA 400 Millionen US-Dollar, um im fruchtbaren Nordosten des Landes rund eine halbe Million palästinensische Flüchtlinge anzusiedeln. Doch die syrischen Oppositionsparteien protestierten gegen diesen Vorschlag. Sie sahen dieses Angebot als Ausverkauf der in ihren Augen legitimen palästinensischen Rechte auf eine Rückkehr in das Land, das jetzt von den „Zionisten“ besetzt gehalten wurde.

Syriens Politik war stets darauf bedacht, seine eigene regionale Vormachtstellung zu sichern. So darf auch die Annäherung an die USA nach 1989 nicht als Hinwendung um Westen missverstanden werden. Schließlich ist heute der Iran der wichtigste strategische Partner Syriens. Es erhält aus Teheran billiges Öl und militärische Unterstützung.

Gibt es womöglich Chancen, Syrien aus den Klauen des Iran zu lösen? Davon sind viele im Westen überzeugt. Denn trotz der Unterstützung islamistischer Kräfte – die herrschende Baath-Partei ist bis heute radikal laizistisch, radikal anti-religiös.

Eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung zwischen Syrien und dem Westen könnte der Türkei zufallen. Sie ist ein enger strategischer Partner der USA und Israels und teilt mit Syrien eine Grenze und vor allem: Wasserquellen. Die Türkei kontrolliert die gesamte Wasserzufuhr, die Syrien vom Euphrat erhält.

Heute ist die Türkei das einzige nichtarabische Land, das gute Beziehungen zu Syrien unterhält. Sollte die Türkei früher oder später EU-Mitglied werden, so könnte das auch für Syrien positive wirtschaftliche Auswirkungen haben.

Doch dazu muss sich Assad mehr bewegen. Zwar war Syrien eines der ersten Länder, das die von den USA eingesetzte irakische Regierung nach dem Sturz Saddam Husseins anerkannte.

Doch Syrien hält seine Grenzen zum Irak weiterhin offen. Waffen und islamische Terroristen können ungehindert in den Irak gelangen und somit den bewaffneten Kampf gegen amerikanische Truppen fortführen.

Bleibt also das Terror-Problem. Syrien ist nicht einfach nur ein „stiller Teilhaber“ an Terroraktionen islamistischer Gruppen. Syrien war selbst an zahlreichen Attentaten beteiligt, nach zuverlässigen Aussagen des US-Außenministeriums gibt Syrien der Hizbollah eine „substanzielle Menge Hilfe in den Bereichen Finanzen, Ausbildung, Waffen, Explosivstoffen, Politik, Diplomatie und Organisation“. Iranische Waffen, die für die Hizbollah bestimmt sind, gelangen über Syrien in den Libanon. Und man darf nicht vergessen: Syrien lässt bis heute Angriffe der Hizbollah auf Israel zu, schürt so regionale Spannungen, ganz wie es Damaskus beliebt.

Für Syrien ist die Beheimatung der Terrorgruppen ein wichtiges Element seiner Politik. Einerseits kann man deren Aktivitäten kontrollieren und beeinflussen, andererseits gibt es dem Regime die Möglichkeit, die Terrorgruppen als permanente Bedrohung moderater arabischer Staaten einzusetzen, um diese wenn nötig zu zwingen, sich gemäß eigener Interessen zu verhalten.

Nicht nur der Westen muss sich also angesichts der nuklearen Bedrohung durch den Iran entscheiden, wie er mit Syrien umgehen will. Auch Bashar al-Assad wird irgendwann Farbe bekennen müssen. Von ihm wird ein deutliches Signal erwartet, wohin er sein Land zu führen gedenkt. Dazu aber müsste er mit einer alten syrischen Tradition brechen: Mit der Politik der Doppeldeutigkeit, die sich immer mehr Möglichkeiten offen lässt.

 

[1] Jörg Armbruster, „BRENNPUNKT NAHOST Die Zerstörung Syriens und das Versagen des Westens“, Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013

[2] Richard C. Schneider, „WER HAT SCHULD? WER HAT RECHT? Was man über den Nahostkonflikt wissen muss“, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2007

War es „Verrat an den arabischen Völkern?“

Das Vertrauen in Leutnant Lawrence 1919 und Henry MacMahon, dem britischen Hochkommissar von Ägypten, gegenüber den arabischen Freunden war groß. Sie vertrauten den Versprechen vom arabischen Reich und glaubten an eine große Zukunft nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches.

Tatsächlich hatte sich aber schon während des  Krieges abgezeichnet, dass die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich ihre Ansprüche auf die arabische Welt nicht aufgeben würden.

Was ist schon ein gebrochenes Versprechen, verglichen mit dem vielen Öl unter dem Wüstensand und dem Suezkanal als Verbindungsweg nach Asien? Das war das einzige, was damals für die Sieger des Ersten Weltkriegs zählte. Und genau darüber beklagte sich Lawrence in seinem Buch „Die sieben Säulen der Weisheit“.

Und diese Alten hatten sogar einen Namen. Mr. Sykes und M. Picot. Mark Sykes, ein britischer Diplomat und sein Kollege Francois Georges-Picot. Sie hatten im Auftrag ihrer Regierungen schon 1916 in einem Geheimabkommen festgelegt, wie der Nahe Osten nach einem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches unter den beiden Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien aufgeteilt werden sollte.

Der nach dem ersten Weltkrieg gegründete Völkerbund, ein Vorläufer der Vereinten Nationen, setzte Großbritannien und Frankreich als politischen Vormund über Provinzen der arabischen Welt ein, die früher zum Osmanischen Reich gehört hatten. London beanspruchte als Mandat Jordanien und Palästina, Frankreich bekam Syrien und den Libanon zugesprochen.

Die Grenzen dieser Mandatsgebiete wurden mit dem Lineal gezogen, was man heute noch besonders drastisch an den Grenzen Jordaniens erkennen kann.

Auch der östliche Nachbar des Haschemitenreichs ist ein solches Kunstgebilde. Aus drei osmanischen Provinzen hatten britische Offiziere ein Riesenreich zusammengebacken und es Irak genannt. Die Menschen, die dort lebten, hatten sie allerdings nicht gefragt.

Und sich selbst hatten diese kolonialen Staatengründer offensichtlich auch nicht gefragt, ob Kurden, Schiiten und Sunniten tatsächlich einen gemeinsamen Staat bilden können, ob es nicht sinnvoller wäre, Stammesgrenzen und Siedlungsgebiete der Menschen zu berücksichtigen. Nicht nur der Irak leidet jedenfalls heute noch unter dieser Arroganz der britischen Kolonialbürokratie.

Dieses Sykes-Picot-Abkommen war die Grundlage für die postkoloniale Ordnung im Nahen Osten, die bis in die Gegenwart gehalten hat. Mehr schlecht als recht; denn keines dieser arabischen Länder, die die beiden Kolonialmächte spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg in die Unabhängigkeit entlassen mussten, entwickelte sich zu einer Demokratie, in keinem der Länder hatte die Bevölkerung jemals so etwas wie ein Mitspracherecht bei der Gestaltung ihrer Zukunft.

Und noch einen Verrat hatten die Briten in den Augen der Araber begangen. Der britische Außenminister Lord Balfour hatte am 2. November 1917 den Führern der „Zionistischen Weltorganisation“ das Recht zugesagt, in Palästina „eine Heimstatt für das jüdische Volk zu errichten“, in einem Land also, das eigentlich Arabern gehörte  und von Arabern besiedelt war. Damit hatte er den Grundstein für den heute noch andauernden Palästinakonflikt zwischen Israel und den Arabern gelegt.

[1] Jörg Armbruster, „BRENNPUNKT NAHOST Die Zerstörung Syriens und das Versagen des Westens“, Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013

[2] T.E. Lawrence, “ Die Sieben Säulen Der Weisheit“ „Lawrence von Arabien“,  Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, 2. Auflage 2010

Sexuelle Belästigung der Frauen auf dem Tahrir-Platz

Der Tahrir-Platz verdankt seinen Namen einigen gebildeten ägyptischen Frauen. Sie haben sich vor ca. 90 Jahren demonstrativ den Schleier vom Kopf gerissen und zur Befreiung Ägyptens sowohl von den britischen als auch von der osmanischen Herrschaft aufgerufen.

Die ägyptische Frauenrechtlerin Huda Scha’arawi, die Klara Zetkin als Vorbild sah, hatte diese Aktion damals initiiert, nicht um zu provozieren, sondern um andere Frauen zu ermutigen, sich von niemandem bevormunden zu lassen. Sie wurde für ihre Aktion nicht als Häretikerin oder Provokateurin betrachtet, sondern als Menschenrechtsaktivistin, nach der man eine Straße in Kairo benannte. Heute, über 90 Jahre später, ist eine derartige Aktion auf dem Tahrir-Platz beinahe unvorstellbar.

Im März 2011 traf sich am Rande eines Medienkongresses in Berlin die tunesische Bloggerin Lina Mhenni, die eine zentrale Rolle während der Jasmin-Revolution spielte, auch wenn sie das selbst immer bestreitet. Die zierliche junge Frau hatte einen Blog mit dem harmlosen Namen „A tunesian girl“, der aber eines von vielen effektiven Mitteln gegen die Zensur war, die das Regime Ben Alis über die Medien verhängt hatte. Obwohl ihr Freund, selbst Blogger, von der Polizei entführt und gefoltert wurde, schrieb sie weiter. Sie initiierte eine Internetkampagne für die Freilassung ihres Freundes und gegen Folter und Zensur.

Die Ironie der Geschichte ist, dass Ben Alis Frau Leila Trabelsi, die das Kopftuch im lauzistischen Tunesien vehement bekämpft hatte, nun in Saudi-Arabien lebt, wo sie ohne Schleier das Haus nicht verlassen darf.

Nicht nur religiöse Fanatiker hatten etwas dagegen, dass Frauen öffentlich demonstrieren, sondern normale Tunesier. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Ben Ali und auch seine Frau gesetzlich garantierten, schien einigen im nachrevolutionären Tunesien nicht mehr willkommen zu sein.

Das ägyptische Pendant zu Lina Mhenni ist Israa Abdel-Fattah…Die junge Bloggerin ist die Mitbegründerin der Bewegung „6. April“, die an der Seite von „Kahlid Said“ auf Facebook für eine große Mobilisierung der Demonstranten während der Revolution, aber lange davor verantwortlich war. Israa war eine der ersten Ägypterinnen, die Ende 2007 ein Facebook-Account einrichteten, kurz nachdem das soziale Netzwerk in Ägypten bekannt geworden war.

Als die Jasmin-Revolution Mitte Dezember 2010 in Tunesien ausbrach verfolgte Israa die Ereignisse  via Facebook und knüpfte Kontakte zu tunesischen Aufständischen. Am 25. Januar rief sie die Ägypter auf, nicht zu Hause zu bleiben, sondern in Scharen auf die Straße zu gehen. Sie wollte so viele wie möglich zum Tahrir-Platz mitnehmen, deshalb fing sie im Stadtteil Shubra an, in dem eine große koptische Gemeinde lebte.

Heute sitzt Israa als Mitglied der Jugendunion der Revolution mit den uniformierten Herren der Armee zusammen und verhandelt über die Zukunft Ägyptens. „Wir stehen kurz davor, unser Vertrauen in das militärische Etablissment zu verlieren. Wir verstehen viele Entscheidungen des Militärrates nicht, wir wissen immer noch nicht genau, was sie mit dem Land vorhaben“ sagt sie. „Unser Problem als Jugend, die diese Revolution zustande brachte, ist aber, dass wir nicht in der Lage sind, das Land zu führen. Uns fehlen die Expertise und all die Tricks. Deshalb müssen wir mit ihnen reden.

Die Revolution in Ägypten zeigte am 18. Tag ihr schreckliches Gesicht,

…das allerdings durch den Rücktritt von Mubarak überschattet wurde und kaum Beachtung fand. Während die Massen in Freudentaumel gerieten, stand die CBS-Korrespondentin Lara Logan umgeben von vielen jungen Männern. Logan schien überfordert und konnte kaum reden. Plötzlich rief einer aus der Masse „Sie ist eine Israelin.“ Ein anderer schrie: „Zieht ihr die Unterhose aus!“ Sie verlor den Kontakt zu ihrem Kameramann und dem Team.

Der  Rest ist eine einzige Tragödie, für die es keine Entschuldigung geben kann. Während Zehntausende laut schrien „Erhebe deinen Kopf, du bist Ägypter“, warfen Dutzende ägyptische Männer die südafrikanische Korrespondentin auf den Boden, rissen ihr die Kleidung vom Leib, begrabschten sie überall und vergingen sich an ihr.

Das Problem ist vielschichtig. Lara Logan ist eine Frau, eine westliche, blonde, unverschleierte Frau, die als Israelin bezeichnet wurde, eine vierfache Diskriminierung in einem Land, in dem nach wie vor eines dieser vier Attribute ausreicht, um diskreditiert zu werden. Tatsache ist, dass Fälle von sexuellen Belästigungen und Übergriffe auf Frauen in den Straßen, Verkehrsmitteln und öffentlichen Einrichtungen in Ägypten in den  vergangenen Jahren deutlich zugenommen habe.

Hamed Abdel-Samed, „Krieg oder Frieden Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens“, 2011, Droemer Verlag, München

Die Stellung der Frau im Islam

Hamed Abdel-Samed beschreibt in seinem u.g. Buch über „Sex, Ehe und die Stellung der Frau: Was hat Mohamed wirklich verändert?“

Viele muslimische Theologen sind der Meinung, arabische Frauen in vorislamischer Zeit hätten gar keine Rechte gehabt. Erst Mohamed habe ihren Status verbessert und damit die Verhältnisse geradezu revolutioniert. So wird zum Beispiel behauptet, dass Frauen nicht erbberechtigt gewesen seien und nach dem Tod ihrer Männer wie Gegenstände an männliche Verwandte „vererbt“ worden seien. Mohamed soll das Erbrecht für Frauen eingeführt haben, so dass sie fortan die Hälfte dessen zugesprochen bekamen, was einem männlichen Erben zustand. Ebenfalls wird behauptet, dass Frauen in vorislamischer Zeit nicht das Recht gehabt hätten, bei der Wahl ihres Zukünftigen ein Wörtchen mitzureden. Erst mit dem Islam habe sich das geändert; seitdem gelte die Zustimmung der Frau als Voraussetzung für eine Eheschließung.

Doch Beispiele aus dem Leben Mohameds selbst belegen das Gegenteil. In seiner Biographie wird seine erste Frau Khadidscha als reiche Erbin beschrieben, die eine Zeitlang alleine lebte und als Witwe die Handelsgeschäfte ihres verstorbenen Mannes weiterführte. Und noch in vorislamischer Zeit wurde sie Mohameds Arbeitgeberin. Khadidscha hat sich ihren dritten Mann aktiv ausgesucht und sich mit ihrer Entscheidung auch gegen ihren Vater durchgesetzt.

Der zweite Beleg stammt sogar aus noch früherer Zeit und bezieht sich auf die Ehre von Mohameds Großvater Hashim mit einer Frau Yathrib. Diese hatte abgelehnt, ihrem Mann in seiner Heimatstadt Mekka zu folgen, und war bei ihrer Familie geblieben, an jenem Ort, an dem sie auch das gemeinsame Kind Abd al-Muttalib geboren hatte. Vor dem Islam hatten sowohl der Mann als auch die Frau das Recht, sich scheiden zu lassen. Mit dem Islam wurden die Rechte der Frauen beschnitten. Seitdem ist das Scheidungsrecht einzig dem Mann vorbehalten. Ein ähnlicher Rückschritt wurde bei der Sexualität vollzogen. Früher war es der Frau erlaubt, nicht nur Sex in der Ehe zu haben, sondern auch in einer unehelichen Beziehung. Mit dem Koran wurde dies unterbunden.

Kritiker dieser Sichtweise verweisen in diesem Zusammenhang gerne auf die vermeintlich altarabische Tradition des Ehrenmordes. Zwar gab es in vorislamischer Zeit Fälle, bei denen eine Frau wegen Ehebruchs getötet wurde. Doch dies waren Fälle, bei denen sich die Frau mit einem Mann aus einem fremden Stamm eingelassen hatte, was die Identität des eigenen Stammes gefährdete. Es war eher eine ökonomische als eine moralische Frage. Innerhalb des eigenen Stammes oder Clans war es keine Seltenheit, dass eine Frau Beziehungen zu mehreren Männern unterhielt. Es gab etliche Formen der Ehe und des Zusammenlebens in Altarabien, einer Zeit, in der sowohl Männer als auch Frauen ihre Sexualität so freizügig ausleben konnten wie seitdem nie wieder.

In dem Buch werden folgende weitere Themen dargestellt: Die reguläre Ehe, Ehe mit einer Kriegsgefangenen/Sklavin, Polygamie, Die Genussehe, Die Tauschehe, Die Leihvater-Ehe, Prostitution, Die Gewalt beginnt mit dem Wort.

Hamed Abdel-Samed, „Mohamed Eine Abrechnung, Oktober 2015, Droemer Verlag, München

Schwierigkeiten der arabischen Bewegung

Die Entwicklung und Entstehung Arabiens.

Die erste Schwierigkeit der arabischen Bewegung lag in der Feststellung, wer eigentlich „Araber“ war. Da sie ein zusammengewürfeltes Volk sind, hat ihr Name im Lauf der Jahre seinen Inhalt geändert. Einst bedeutete er „ein Arabischer“. Es gibt ein Land, das Arabien heißt; doch damit ist nichts gewonnen. Es gibt eine Sprache, das Arabische, und das führt uns zum Ziel. Sie ist die gemeinsame Umgangssprache in Syrien und Palästina, in Mesopotamien und auf der großen Halbinsel, die auf der Karte mit Arabien bezeichnet ist. Vor dem Sieg des Islam waren diese Gegenden von verschiedenen Völkern bewohnt, die Sprachen der arabischen Sprachgruppe gebrauchten. Wir nennen sie das Semitische, was (wie die meisten wissenschaftlichen Bezeichnungen) ungenau ist. Indessen waren das Arabische, Assyrische, Babylonische, Phönizische, Hebräische, Aramäische und Syrische doch verwandte Sprachen; und die Merkmale gemeinsamer Einflüsse in der Vorzeit oder sogar eines gemeinsamen Ursprungs wurden durch die Erkenntnis bestätigt, daß Sitten und Gebräuche der heute arabisch sprechenden Völker Asiens zwar bunt wie ein Mohnfeld sind, doch im wesentlichen übereinstimmen. Man kann sie mit vollem Recht Verwandte nennen

-wunderliche Verwandte, die voreinander auf der Hut sind.

Das arabischsprechende Gebiet Asiens stellt ein unregelmäßiges Parallelogramm dar. Seine Nordseite läuft von Alexandrette am Mittelmeer quer durch Mesopotamien ostwärts zum Tigris. Die Südseite bildet die Küste des Indischen Ozeans von Aden bis Maskat. Im Westen ist es begrenzt vom Mittelmeer, vom Suezkanal und dem Roten Meer bis Aden. Im Osten vom Tigris und dem Persischen Golf bis Maskat. Dieses Viereck, so groß wie Indien, bildet das Heimatland der Semiten, in dem keine fremde Rasse dauernd Fuß fassen konnte, obwohl Ägypter, Hettiter, Philister, Perser, Griechen, Römer, Türken und Franken es verschiedentlich versucht haben. Alle sind schließlich unterlegen; und ihre verstreuten Reste gingen bald in der semitischen Rasse mit ihren stark ausgeprägten Merkmalen auf.

Einige Male sind die Semiten über dieses Gebiet hinausgedrungen und selber in der Außenwelt untergegangen. Ägypten, Algier, Marokko, Malta, Sizilien, Spanien, Kilikien und Frankreich haben semitische Kolonien aufgesogen und vernichtet. Nur in Tripoli, in Afrika und in der erstaunlichen Erscheinung des Weltjudentums haben Teile der Semiten ihre Eigenart und Stärke behauptet.

Die[se] bewohnten Berggürtel und Ebenen umschließen ein dürres Wüstengebiet, in dessen Mitte ein Archipel wasser- und volkreicher Oasen liegt: Kasim und E’Riad. Diese Oasengruppen sind das eigentliche Herz Arabiens, das Gehege seines völkischen Geistes und einer selbstbewußten Eigenart…Die Wüsten um die Oasen, die ihnen diesen großen Dienst leistete und so den Charakter der Araber formte, ist landschaftlich nicht einheitlich.

Die Berggürtel im Westen und die Ebenen im Osten gehörten stets zu den volkreichsten und lebendigsten Gebieten Arabiens. Besonders Syrien und Palästina, Hedschas und Jemen griffen von Zeit zu Zeit in die Geschichte  des europäischen Lebens ein. In ihrer kulturellen Eigenart nach gehören diese fruchtbaren und gesunden Bergländer mehr zu Europa als zu Asien. Wenn überhaupt die Araber ihre Blicke stets auf das Mittelmeer und nicht auf den Indischen Ozean gerichtet hielten, sowohl für ihre kulturellen Bedürfnisse und wirtschaftlichen Unternehmungen, wie auch besonders für ihre Ausbreitung.

Die Wadis unterhalb von Mekka und Taif sind voll von Erinnerungen und Ortsnahmen einiger fünfzig Stämme, die von dort ausgezogen  sind und heute vielleicht im Nedschd, im Dschebel Schammar, im Hamad oder sogar an den Grenzen von Syrien und Mesopotamien zu finden sind. Dort begann die Wanderung, entstand das Nomadentum, entsprang der Golfstrom der Wüstenwanderer.

Die Semiten kennen keine Halbtöne in den Registern ihrer transzendalen Schau. Sie sind ein Volk der Grundfarben, oder vielmehr des Schwarz und Weiß, und sehen die Welt stets nur in Umrissen. Sie sind dogmengläubig und verabscheuen den Zweifel, die Dornenkrone unserer Zeit. Sie haben kein Verständnis für unsere metaphysischen Bedenken oder unserer grüblerischen Fragestellungen. Sie kennen nur Wahrheit und Unwahrheit, Glauben und Unglauben, ohne unsere zögernden Vorbehalte der feinen Abschattierungen.

Der Instinkt bestimmte ihre Überzeugungen, die Intuition ihr Handeln. Ihre Haupttätigkeit bestand in der Herstellung von Glaubensbekenntnissen; sie besaßen geradezu ein Monopol auf Offenbarungsbekenntnissen.

Das Christentum hat, nach seiner Übertragung in den Geist des Griechischen, Lateinischen und Germanischen, Europa und Amerika erobert. Der Islam hat in verschiedenen Abwandlungen Afrika und Teile von Asien unterworfen.

Der Wüstenbewohner konnte mit seinem Glauben nicht nach außen wirken. Seine Erlebnisarmut beraubte ihn des Mitleids und ließ seine menschliche Güte entarten zu dem Bilde der Wüstenei, in der er sich verbarg. So kam es, daß er sich kasteite, nicht um frei zu sein, sondern, um sich zu gefallen. Damit folgte ein Schwelgen in Schmerz, eine Grausamkeit, die ihm mehr bedeutete als alle irdischen Güter.

Ihr Geist war dunkel und seltsam, voller Höhen und Tiefen, der strengen Zucht entbehrend, aber glühender und fruchtbarer im Glauben als irgendein anderer auf der Welt. Sie waren ein Volk des ewigen Aufbruchs, für die das Abstrakte die stärkste Triebfeder war, der Anstoß zu unbegrenzter Kühnheit und Mannigfaltigkeit, und denen das Ende nichts bedeutet.

T.E. Lawrence, “ Die Sieben Säulen Der Weisheit“ „Lawrence von Arabien“,  Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, 2. Auflage 2010

Warum Jerusalem?

Warum galt Jerusalem als Mittelpunkt der Welt?

Die Geschichte Jerusalems ist die Geschichte der Welt, zugleich aber die Chronik einer meist verarmten Provinzstadt im Bergland Judäas.

Die Stadt ist Brennpunkt der Auseinandersetzungen zwischen Abrahamitischen Religionen, das Heiligtum eines zunehmend populären christlichen, jüdischen und islamistischen Fundamentalismus, strategisches Schlachtfeld eines Kampfes der Kulturen, Frontlinie zwischen Atheismus und religiösem Glauben, Anziehungspunkt säkularer Faszination, Gegenstand schwindelerregender Verschwörungstheorien und Internetmythen und grell beleuchtete Bühne für die Kameras der Welt in einem Zeitalter der Rund-um-die Uhr-Nachrichtensendungen.

Jerusalem ist die Heilige Stadt, war zugleich aber schon immer ein Hort des Aberglaubens, der Scharlatanerie und Bigotterie; sie war begehrtes Eroberungsziel von Weltreichen, aber ohne strategischen Wert.

Hier wurden die Abrahamitischen Religionen geboren, und hier wird die Welt am Tag des Jüngsten Gerichts enden. Jerusalem, das den Völkern der Bibel heilig war, ist die Stadt der Bibel.

Als die Bibel ind Griechische und später ins Lateinische und in andere Sprachen übersetzt wurde, entwickelte sie sich zum Universalbuch und machte Jerusalem zur Universalstadt.

Der Historiker Ibn Khaldun, der im 14. Jahrhundert manche der in diesem Buch geschilderten Ereignisse selbst erlebte und uns als Quelle dient, stellte fest, dass Geschichte eifrig gefragt ist: „Die Menschen auf der Straße wollen sie kennen, Könige und Führer wetteifern um sie“. Das gilt besonders für Jerusalem.

Als Begegnungsstätte von Gott und Mensch ist Jerusalem der Ort, an dem diese Fragen der Apokalypse geklärt werden: am Ende aller Tage, an dem es einen Krieg, einen Kampf zwischen Christ und Antichrist geben wird; an dem die Kaaba von Mekka nach Jerusalem kommen wird; an dem das  Jüngsten Gericht stattfinden wird, die Toten auferstehen und die Herrschaft des Messias und des himmlischen Königsreichs, des neuen Jerusalem, beginnen wird.

Die Toten sind hier nahezu lebendig, während sie auf ihre Auferstehung warten. Der endlose Kampf Jerusalems – Massaker, Chaos, Kriege, Terrorismus, Belagerung und Katastrophen – hat diesen Ort zu einem Schlachtfeld gemacht.

Die Entwicklung, die dieses Heiligtum des Himmels und der Erde nahm, war nicht immer vom Schicksal bestimmt. Der Funke einer Offenbarung, die ein charismatischer Prophet wie Moses, Jesus oder Mohammed hatte, ließ Religionen entstehen. Tatkraft und Glück eines Kriegsherrn schufen Imperien und eroberten Städte. Die Entscheidung Einzelner, angefangen bei König David, machte Jerusalem zu Jerusalem.

Davids kleine Zitadelle, die Hauptstadt eines unbedeutenden Königreiches, hatte sicher nur geringe Aussichten, zu einem wichtigen Anziehungspunkt der Welt zu werden. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar eine tragende Stütze für die Heiligkeit der Stadt schuf, weil diese Katastrophe die Juden veranlasste, die Herrlichkeit Zions zu schildern und zu preisen… Die Bibel trat anstelle des jüdischen Staates und des Tempels und wurde  zum „portativen Vaterland“, wie Heinrich Heine es in seinen Geständnissen nannte.

Die Heiligkeit der Stadt erwuchs aus der Besonderheit der Juden als auserwähltem Volk. Jerusalem wurde zur auserwählten Stadt, Palästina zu auserwählten Land, und Christen und Muslime erbten und übernahmen diese herausgehobene Stellung.

Jerusalem trotzt gesundem Menschenverstand, praktischer Politik und Strategie und existiert im Reich heißer Leidenschaften und unbesiegbarer Emotionen, die der Vernunft nicht zugänglich sind.

Wichtige Stätten wie der Tempelberg, die Zitadelle, die Davidsstadt, der Berg Zion und die Grabkirche weisen keine klar unterscheidbare Schichtung auf, sondern ähneln eher einem Palimpset oder einer Stickerei, deren Seidenfäden so miteinander verflochten sind, dass man sie nicht mehr voneinander trennen kann.

So war der Berg Zion Ziel fanatischer Verehrung von Juden, Muslimen und Christen, zieht aber heute kaum noch muslimische oder jüdische Pilger an und ist wieder überwiegend ein christliches Heiligtum.

In Jerusalem gibt es nicht nur zwei Seiten, sondern viele miteinander verflochtene, sich überschneidende Kulturen und vielschichtige Loyalitäten – ein facettenreiches, wandelbares Kaleidoskop aus arabisch-orthodoxen Christen, arabischen Muslimen, sephardischen Juden, aschkenasischen Juden, Haredi-Juden verschiedener Richtungen, säkulare Juden, armenisch-orthodoxe Christen, Georgiern, Serben, Russen, Kopten, Protestanten, Äthiopiern, Lateinern und so weiter.

Simon Sebag Montefiore, “ Jerusalem Die Biographie“, 3. Auflage: März 2013, Fischer Verlag, Frankfurt